What is... Grundbildung?

Quelle: Flickr (sulamith.sallmann)
"Alphabetisierung" und "Analphabetismus" sind Begriffe, die die meisten (glauben zu) kennen, unter denen man sich zumindest etwas vorstellen kann. Nicht nur in der Fachliteratur geistert seit noch nicht zu langer Zeit allerdings noch ein anderer Begriff herum: "Grundbildung". Da gibt es plötzlich den "Grundbildungspakt" und "arbeitsplatzbezogene Grundbildung". Aber was ist nun Grundbildung und was hat sie mit Analphabetismus zu tun?

 Analphabetismus
Aber fangen wir von vorne an: Der Begriff "Analphabetismus" wird unter Laien verstanden als "schlecht lesen und schreiben zu können". Oder eher "nicht lesen und schreiben können"? Schon hier ergeben sich in der öffentlichen Wahrnehmung missverständliche Vorstellungen. Dazu kommen folgende Probleme:
  • "Analphabetismus" trägt zu Stigmatisierung bei
  • "Analphabetismus" klingt nach Ausschließlichkeit: entweder man kann es, oder man kann es nicht. Besser wäre die Konzeptionalisierung als ein Kontinuum oder eine Skala
  • "Analphabetismus" lenkt den Fokus auf die mangelnde Schriftkompetenz. Damit wird allerdings verdeckt, dass noch mehr als das Lernen von Lesen und Schreiben notwendig ist, um volle gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen

Plädoyer für Grundbildung
Gerade den letzten Punkt sehe ich als besonders wichtig an, da er viele beteiligte Gruppen aus der Verantwortung entlässt. Betriebe, zum Beispiel, die eine Förderung ihrer geringqualifizierten Mitarbeiter/innen mit Alphabetisierungskursen für nicht notwendig erachten: "Hier bei uns muss man nichts lesen und schreiben". Was aber durchaus benötigt wird - selbst, wenn tatsächlich nicht gelesen und geschrieben werden muss - ist Grundbildung. Warum?

Grundbildung umfasst mehr als Lesen und Schreiben, es umfasst auch Lesen und Schreiben, aber darüber hinaus mindestens noch:
  • mündliche Kommunikation
  • Rechnen
  • soziale und personale Kompetenzen
  • Umgang mit neuen Technologien
  • Lernen lernen
Mit Grundbildung hat man obigem Unternehmer gegenüber plötzlich ganz andere Argumente: Selbst wenn Lesen und Schreiben tatsächlich keine Rolle im Berufsbild spielen, dann aber doch ganz bestimmt die reibungslose und höfliche Kommunikation mit Kunden und Mitarbeitern/innen. Oder eine schnelle Einarbeitungszeit. Oder die Bereitschaft zu Weiterbildungen.

Der Begriff "Grundbildung" kann auch viel besser verdeutlichen, warum so unterschiedliche Bereiche und Organisationen wie z.B. die Schuldnerberatung, die sozialpädagogische Beratung, das Jobcenter, Ärzte und Krankenkassen, usw. die Zielgruppe der "funktionalen Analphabeten" kennen und im Umgang mit ihnen geschult sein sollten. Auch wenn diese Organisationen wenig gegen Lese- und Schreibschwäche tun können, sollten sie doch einen ganz entscheidenen Einfluss auf die Grundbildung ihrer Klienten haben. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, ist der Begriff "Analphabetismus" zu einschränkend. Die Probleme, die sich bei Lese- und Schreibschwachen ergeben, lassen sich leider nur selten mit einigen VHS-Besuchen lösen. Das sollte auch durch die verwendeteTerminologie zum Ausdruck kommen.



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Der Frage der Terminologie geht auch die neueste Ausgabe (Nr.79) des Alfa-Forums nach. Vgl. hierzu vor allem die hervorragenden Beiträge von Gertrud Kamper, “Von Alphabetisierung und Grundbildung: Zum Lernen des Lernens.”; Rosemarie Klein und Gerhard Reutter, “Alphabetisierung - Grundbildung - Literalität: Über die Schwierigkeit, angemessene Begriffe zu finden.”, Joachim Schroeder, “Alphabetismus versus Grundbildung - Ein notwendiger Gegensatz.”, Bernhard von Rosenbladt, “Der sogenannte funktionale Analphabetismus - Eine sprachkritische Bestandsaufnahme.”