Aber warum eigentlich?
Szenario 1: Ein Lese- und Schreibschwacher geht zur Krankenkasse / zum Jobcenter / zur Schuldnerberatung o.Ä. Beim Ausfüllen der Formulare täuscht er vor, seine Brille vergessen zu haben. Widerwillig füllt die Beraterin die Unterlagen selbst aus. Unser Lese- und Schreibschwacher geht mit einem unguten Gefühl nach Hause.
Szenario 2: Eine Lese- und Schreibschwache geht zur Krankenkasse / zum Jobcenter / zur Schuldnerberatung o.Ä. Beim Ausfüllen der Formulare berichtet sie von ihrer Schwäche. Der Berater reagiert mit Unverständnis. Unsere Lese- und Schreibschwache geht mit einem unguten Gefühl nach Hause.
Szenario 3: Ein Lese- und Schreibschwacher geht zur Krankenkasse / zum Jobcenter / zur Schuldnerberatung o.Ä. Beim Ausfüllen der Formulare berichtet er von seiner Schwäche. Der Berater reagiert mit Verständnis, hilft beim Ausfüllen. Unser Lese- und Schreibschwacher geht nach Hause.
Szenario 4: Eine Lese- und Schreibschwache geht zur Krankenkasse / zum Jobcenter / zur Schuldnerberatung o.Ä. Beim Ausfüllen der Formulare täuscht sie vor, ihre Brille vergessen zu haben. Der Berater registriert, dass dies nun schon zum wiederholten Male passiert und spricht seine Kundin angemessen darauf an. Er hört heraus, dass sie an ihrer Situation gerne etwas verändern möchte und kann sie zu einer passenden Bildungseinrichtung weitervermitteln. Um die Angst vor dem ersten Besuch zu nehmen, kann der Berater den Weg dahin, das Zimmer und den Namen der Ansprechperson genau beschreiben. Unsere Lese- und Schreibschwache geht nicht nach Hause, sondern macht sich auf den Weg in ein neues Leben.
Was den Unterschied zwischen Szenario 1,2,3 und Szenario 4 ausmacht? Genau zwei Dinge:
- geschulte Mitarbeiter in Organisationen, die mit funktionalen Analphabeten häufig in Berührung kommen (wie z.B. Beratungsorganisationen, Gesundheitsorganisationen, etc.)
- ein aktives Netzwerk von solchen beteiligten Organisationen, das sich regelmäßig trifft und austauscht
Zugegeben, ich habe die Szenarien zugespitzt formuliert, aber im Idealfall können persönliche Kontakte zwischen engagierten Mitarbeitern tatsächlich Leben verändern. In Diskussionen mit Beteiligten und Fachleuten wird diese Art der Investition immer wieder als effektivste Maßnahme zur Verringerung von Lese- und Schreibschwäche benannt (siehe auch meinen letzten Blogentry zur LISUM-Tagung).