Quelle: bildungsnetz-brandenburg.de |
Es gab eine bunte Runde aus Politikern (Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Sekretariat der Kultusministerkonferenz, Landkreis Havelland, Hessisches Kultusministerium, ...), VHS- und anderen Lehrkräften, und Jobcentermitarbeitern, um nur die größten Gruppen zu nennen. Insgesamt war der Saal mit ca. 80 Teilnehmern gut gefüllt.
Quelle: de.wikipedia.org |
Zweitens: die Schulen sind wichtige Orte um einerseits Kinder gezielt zu fördern und andererseits auch die Eltern zu erreichen. Schließlich hört man immer wieder von Betroffenen, dass es eine große Motivation für ihre eigene Kursteilnahme war, den Kindern in der Schule helfen zu wollen.
Prof. Grotlüschen von der Uni Hamburg stellte anschließend die leo-Studie vor, die 2010 erstmals genaue Zahlen zu funktionalem Analphabetismus in Deutschland liefern konnte. Wie immer gelingt ihr der Spagat zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Erklären von Basics für Laien und neuen Infos für Profis. Z.B. bestätigt ihre Studie, dass funktionaler Analphabetismus "vererbbar" ist. Was bedeutet das? Wenn zwei Kinder genau die gleichen Voraussetzungen haben und in genau den gleichen Umständen leben, dann neigt dasjenige Kind zu funktionalem Analphabetismus, dessen Eltern keinen Schulabschluss haben und evtl. auch schon mit Lese- und Schreibschwäche zu kämpfen haben. Ein weiteres Argument dafür, wie wichtig es ist, die Eltern zu alphabetisieren.
Auch interessant: Die leo-Studie in Deutschland durchzuführen, bedeutet auch, zwei Erfahrungen mit Schulsystemen zu vergleichen - eines von der DDR, das andere von der BRD geprägt. Erstaunlicherweise gingen die Zahlen nicht weit auseinander - das Schulsystem an sich scheint also keine stark entscheidende Größe zu sein.
Funktionale Analphabeten auf Level 3 haben vermutlich die besten Voraussetzungen, sich schnell zu verbessern. Frau Grotlüschen gab aber auch zu bedenken, dass sich diese Gruppe vermutlich selbst nicht als "funktionale Analphabeten" sehen, und sich mit diesem Begriff wahrscheinlich nicht angesprochen fühlen. Wie kann man ihn, auch in der öffentlichen Wahrnehmung, verändern? Lese- und Schreibungeübte? Schriftschwache?
Hier ist dann auch die inhaltliche Überleitung zu Petra Mundt, Referentin für Grundbildung, Alphabetisierung und Arbeit und Beruf, zu sehen, die ebenfalls über die Terminologie nachdachte. Für die Betroffenenansprache gilt ihrer Erfahrung nach: Plakate und Flyer etc. sollten so groß und so einfach wie möglich sein; wichtig ist ein/e konkrete/r Ansprechpartner/in und eine Telefonnummer. Danach geht es um ein wohnortnahes Angebot, ein schneller Einstieg in den Unterricht und flexible Zeiten.
Ein Problem bei den VHS-Kursen könnte auch sein, dass deren Unterricht auf Alpha-Level 2 ausgerichtet ist; die besseren Betroffenen auf Alpha-Level 3 könnten sich unterfordert fühlen und den Kurs schnell wieder verlassen. Auch problematisch: Viele Materialien sind auf Integrationskurse ausgerichtet, aber manch deutschsprechende/r Betroffene/r möchte nicht immer etwas zu "Wie feiern Sie in Ihrem Land?" erarbeiten müssen.
Nach der Mittagspause gab Stephan Breiding, Pressesprecher des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport, Feedback zu Werbekampagnen und Öffentlichkeitsarbeit für Alphabetisierung. Sein Fazit: ÖA ist gut gemacht und kaum verbesserungsfähig. An diesem Element kann es also nicht liegen, dass Alphabetisierungskurse rückläufig sind. Er schlug vor, ÖA direkt mit Betroffenengeschichten und Schicksalen zu verbinden, die das meiste öffentliche Interesse auf sich ziehen. Es kam zur Diskussion zwischen ihm und den Vertretern der Volkshochschulen, die den Vorschlag von ihrer Sicht aus kommentierten: Die Betroffenen müssen auch vor der Presse geschützt werden, der Pressetermin erfüllt die Unterrichtszeit schon Wochen vorher und nachher, so dass ein "normales" Arbeiten nicht möglich sei, usw.
Die Veranstaltung endete mit zwei Diskussionsrunden.
Fazit: Die eine Lösung konnte nicht gefunden werden. Das ist wenig überraschend und hängt sicher auch mit der in sich extrem unterschiedlichen Zielgruppe zusammen. Worin sich aber alle Teilnehmer einig zu seien schienen, war die Bedeutung von regionalen Netzwerken und den damit zusammenhängenden persönlichen Kontakt zwischen Beteiligten. Will heißen: Wenn der Mitarbeiter vom Jobcenter, die Mitarbeiterin der Schuldnerberatung oder der Krankenkasse so sachkundig und feinfühlig ist, eine Lese- und Schreibschwäche zu erkennen und die Betroffene dann auch noch persönlich zur geeigneten Stelle verweisen kann, dann ist schon viel getan.